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Autor: 123tier

lhhlil

Originaltext

09:03 Uhr
Konfi-Angst

Jeden Tag um neun beginnt die Themenkonferenz. Irma setzt sich ganz hinten hin. Der Konferenzraum ist der stickigste Raum im Haus, aber auch der einzige, der zur Verfügung steht, alle anderen Konferenzräume sind seit Jahresbeginn weitervermietet, an einen Caterer, ein Start-Up und eine Fernbuszentrale.

Was steht heute an, fragt Valentina. Warum werde, denkt Irma, ich bloß diese, und schaut aus dem Fenster, Konfi-Angst nicht los. Sie schaut auf das Einkaufszentrum gegenüber und auf die Birke, die ganz alleine in einer Einrahmung auf dem gepflasterten Platz steht. Arbeitsverweigerung zum Beispiel ist, denkt Irma, möglich – Konfiverweigerung dagegen! Das gibt es noch nicht einmal als Wort. Hoffentlich merkt niemand, dass Irma zu nichts nutze ist außer zu Anwesenheit. Gleich spricht mich jemand an, Susana zum Beispiel, vor Susana hat sie am meisten Angst; aber Susana ist heute gar nicht da, und erschrocken, fast gewaltsam dreht Irma ihren Kopf wieder zurück zur Konfi, weg vom Fenster, weg von der Birke, weg vom Gedanken, und da ist die Themenkonferenz schon um und sie hat wieder kein einziges Wort gesagt.

Zumindest keins, das gehört worden ist. Manchmal sagt Irma schon etwas, zum Beispiel, wenn eh alle durcheinanderreden, dann sagt sie auch etwas, oft etwas von dem, was sie am Morgen gedacht hat, meistens irgendeine Idee, die sie gleich nach dem Aufwachen hatte, aber das geht natürlich unter, manchmal geht das auf eine Weise unter, dass alle verwirrt auf Irma blicken, weil ihr Satz mit ihrer Idee noch nicht zu Ende gesprochen war, während die Sätze der anderen schon verklungen sind. Könnten wir doch, wär doch wichtig, hören die anderen dann noch und schauen, und Irma könnte jetzt, an dieser Stelle, den ganzen Satz mit der ganzen Idee wiederholen, aber sie zieht die Schultern ein und schämt sich, für die eingezogenen Schultern. Aber nicht nur deswegen, sondern auch ganz allgemein. Die anderen kennen das irgendwie von sich selbst, wissen aber auch nichts Genaues darüber, sie gehen jetzt erst einmal frühstücken und Irma geht auch frühstücken.

Autor: Claudia Bleier

Der Mann schlägt den Hund ind dann weinen beide und ein anderer Mann kommt und geht mit dem Hund weg.

Originaltext

13:11 Uhr
Sekunden

Der Mann, der am Busbahnhof zusammengebrochen ist, hat seinen Absturz schon lange hinter sich. Seitdem lebt er von einer Minute zur anderen, von einer Sekunde zur anderen. Jede Sekunde, die er sich selbst nicht spürt, ist eine gute Sekunde.

Autor: anonym

Tausend Tode

Von allen Zwängen und Phobien, die Irma sich im Laufe ihrer vierunddreißig Lebensjahre zugezogen hatte, war die Konfi-Angst noch eine der harmloseren. Wenn sie auch bei Themenkonferenzen selten die Kraft zu einem konstruktiven Redebeitrag aufbrachte, schaffte Irma es immerhin meistens, nicht weiter aufzufallen und passiv daran teilzunehmen. Ihr Blick schweifte aus dem Fenster und sie versuchte, sich die Nervosität und gleichzeitige Langeweilige nicht anmerken zu lassen. Manchmal entschlüpfte ihr ein Gähnen oder Stöhnen, was aber auch dem Sauerstoffmangel zugeschrieben werden konnte – die Lüftung im Konferenzraum war hundsmiserabel und die Fenster ließen sich hier im 16. Stock nicht öffnen. Ohnehin hatte sie das Schlimmste heute schon geschafft, hoffe sie jedenfalls inständig. Sie hatte der Versuchung, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln bis zur Endstation zu fahren, nicht widerstehen können, weshalb sie spät dran gewesen war und notgedrungen den Aufzug genommen hatte. Im letzten Moment, die Aufzugtür war gerade dabei sich zu schließen, hatte sich der Hausmeister schnaufend durch den Spalt gequetscht, wobei sein Hemd hochgerutscht und … sein behaarter, praller Bauch zum Vorschein gekommen war. Irma, die nachweislich an einer ausgepägten Gymnogasterphobie litt, der wirklich unpraktischen Angst vor nackten Bäuchen, war ohne Umschweife schwarz vor Augen geworden, sie hatte zudem so stark gezittert, dass es ihr unmöglich war, den Notknopf zu betätigen… Doch das hätte die ganze Chose vermutlich eh nur in die Länge gezogen. Nach gefühlten Stunden, in denen sie tausend Tode gestorben war, hatte sich die Aufzugtür wieder geöffnet und sie per Zufall genau dorthin entlassen, wo sie am liebsten hinwollte: in die ewigen Jagdgründe der Tiefgarage, in der es kühl war und niemand sah, wie sehr sie litt.

Originaltext

10:19 Uhr
Kleines Tier

Immer ist Irma mit ihren Gedanken irgendwo, aber nicht bei der Arbeit. Das nervt. Valentina macht das aggressiv. Valentina hasst es, aggressiv zu sein. So kann sie nicht arbeiten, sie verdirbt sich ja den ganzen Tag. Love it, leave it or change it. Kann sie gleich mit change it anfangen. Sie überlegt, was sie an Irma so aggressiv macht. Und wieso Irma so zerstreut ist. Valentina muss ehrlich zugeben, dass sie in Irmas Situation wahrscheinlich auch zerstreut wäre, geboren und aufgewachsen in irgendeiner Kleinstadt, deren Name Valentina absolut nichts sagt (noch nicht einmal ob Süden, Norden, Osten oder Westen), Vater unbekannt, eine Schwester. Abitur, Studium und alles, normal. Freie Mitarbeiterin als Honorarkraft, auch normal. Valentina muss sich jedoch eingestehen, dass sie selbst es sehr viel besser getroffen hat als Irma und sie deshalb ruhig ein bisschen verständnisvoller sein könnte. Valentina hat: Urlaubsanspruch, Krankengeldanspruch, Arbeitslosengeldanspruch. Außerdem Aufstiegschancen und Gewinnbeteiligung. Auch die Rente ist soweit gesichert. Eigentlich der beste Job der Welt, sagt Valentina halblaut vor sich hin. Sie atmet tief ein und tief aus und fühlt, wie das Mindsetting seine Wirkung tut. Und dann ist da plötzlich noch etwas anderes, denn kaum hat sie den Satz gesagt, trippelt er durch ihren Körper wie ein kleines Tier. Er löst etwas aus. So ein seltsames Gefühl, als ob sie gleich weinen müsste, aber sie wüsste gar nicht, warum. Und dann passiert es, plötzlich stimmt der Satz, auch wenn er kurz vorher nicht gestimmt hat. Ihre Aggressionen sind wie weggeblasen. Hammer.